Es gibt keinen Impfstoff

Klimaschutzministerin Leonore Gewessler

Corona hat die Klima-Krise in den letzten Monaten regelrecht von den Bildschirmen und aus der öffentlichen Wahrnehmung gefegt. Jetzt, in der Zeit, in der man global mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft beschäftigt ist, rückt sie wieder ins Bewusstsein. Wir haben mit Klimaschutzministerin Leonore Gewessler über die Rolle der FMCG-Branche und den Kreislaufwirtschaftsgedanken generell gesprochen.

PRODUKT: Warum ist es gerade jetzt wichtig, das Thema Klimaschutz mit Nachdruck zu verfolgen, auch wenn wirtschaftlich vielleicht gerade „günstige“ Lösungen gefragt wären?
Gewessler: Wir haben in den letzten Wochen gespürt, wie sich Krise anfühlt. Die Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus haben für uns alle große Einschränkungen mit sich gebracht. Aber die Corona-Krise bekommen wir mit konsequenten Maßnahmen, Entschlossenheit und der Wissenschaft – hoffentlich bald einer Impfung – wieder in den Griff. Bei der Klimakrise ist das anders. Gegen die Klimakrise gibt es keinen Impfstoff. Wenn sie einmal da ist, geht sie nicht mehr weg. Dann wird der Krisenzustand zum Dauerzustand. Genau deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt in den Klimaschutz investieren. Und das Gute daran ist – damit sorgen wir auch für sichere Arbeit und eine stabile Wirtschaft. Ich bin überzeugt: Klimaschutz ist das beste Konjunkturprogramm.

PRODUKT: Der Begriff „Kreislaufwirtschaft“ ist noch nicht jedem geläufig – was verstehen Sie darunter? Und inwiefern tangiert dieses Thema die Hersteller von Gütern des täglichen Bedarfs?
Gewessler: Wichtig ist, dass uns allen klar ist: Wir haben nur diesen einen Planeten und müssen sorgsam mit seinen Ressourcen umgehen. Die Kreislaufwirtschaft ist ein Wirtschaftsmodell, bei dem Materialien und Produkte so lange wie möglich genutzt werden, indem z.B. Produkte repariert oder weitergegeben werden. Auf diese Weise wird der Lebenszyklus der Produkte verlängert und im Idealfall ein Neukauf nicht notwendig oder zumindest hinausgezögert. Dadurch werden Abfälle vermieden und Ressourcen geschont. In einer Kreislaufwirtschaft werden weiters die eingesetzten Rohstoffe am Ende des Lebenszyklus eines Produktes möglichst vollständig in den Produktionsprozess zurückgeführt. Auf diese Weise können auch die eigentlichen Rohstoffe bei der Produktion ersetzt werden. Der Kreislaufgedanke ist in der FMCG-Branche durch sparsamen Umgang mit Ressourcen, die Verwendung erneuerbarer Rohstoffe oder von Recyclingmaterialien sowie durch Verpackungsvermeidung vielfältig umsetzbar.

PRODUKT: Welchen Einfluss hat die Lebensmittel-Industrie generell auf die Klima-Thematik und welche Hebel sind hier die wichtigsten?
Gewessler: Die Lebensmittelverschwendung spielt diesbezüglich eine erhebliche Rolle. Rund ein Drittel der produzierten Lebensmittel geht gemäß Schätzungen weltweit verloren. Im September 2015 wurde die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Diese enthält 17 globale Nachhaltigkeitsziele, wovon eines der Verringerung der Lebensmittelabfälle gewidmet wurde. Demnach sollen bis 2030 die vermeidbaren Lebensmittelabfälle pro Kopf auf Einzelhandels- und Verbraucherebene halbiert werden. Österreich hat sich verpflichtet, diese Zielvorgaben umzusetzen. Das gleiche gilt aber auch in vielen anderen Bereichen: Durch die Einsparung von Energie ist vieles möglich, aber auch durch effiziente Lieferketten. Es gibt viele Stellen, an denen wir ansetzen können.

PRODUKT: Das EU-Kreislaufwirtschaftspaket sieht Recycling-Ziele hinsichtlich Verpackungen vor – sind diese erreichbar?
Gewessler: Die Recyclingziele für Verpackungen mit dem Zeithorizont 2025 bzw. 2030 sind im Kunststoffbereich eine große Aufgabe. Für Glas- und Papierverpackungen hat Österreich bereits die Ziele für 2030 erreicht. Bei den Kunststoffverpackungen ist eine Verdoppelung der derzeitigen Recyclingquote notwendig. Dazu sind entsprechende Steigerungen sowohl bei der getrennten Sammlung als auch bei der Sortierung und bei der Verwertung erforderlich. Das Klimaschutzministerium hat dazu eine Studie in Auftrag gegeben, die verschiedene Varianten zur Erreichung der Ziele näher beleuchtet hat. Darin ist das Pfandsystem die wirtschaftlich sinnvollste Variante. Wir diskutieren die weiteren Schritte nun mit unseren Partnerinnen und Partnern aus allen Bereichen.

PRODUKT: Bei vielen Produkten wäre die Verpackung generell recyclebar, allerdings fehlt die entsprechende Entsorgungsinfrastruktur und die Konsumenten sind verunsichert, was, wo und wie entsorgt werden kann. Gibt es konkrete Pläne in Richtung Vereinheitlichung von Verpackungsmaterialien und Entsorgungs-Infrastruktur bzw. Kennzeichnung des richtigen Entsorgungsweges auf der Packung?
Gewessler: Europäisches und auch österreichisches Ziel ist es, dass bis 2030 alle Verpackungen wiederverwendbar sind. Bei den Kunststoffen und Materialverbunden ist das noch ein weiter Weg. Recyclingfähigkeit setzt ein entsprechendes Sammelsystem, die Sortierbarkeit einer Verpackung in automatischen Sortieranlagen, die Verarbeitbarkeit im Recyclingprozess und ein Marktpotential der erzeugten Sekundärrohstoffe voraus. Im Bereich des Kunststoffrecyclings ist Österreich mit 25 Anlagen und bei weitem ausreichenden Verarbeitungskapazitäten gut aufgestellt. Im Bereich der Sortierung sind in den nächsten Jahren jedenfalls umfangreiche Investitionen notwendig, um die Sortieranlagen auf den aktuellsten Stand der Technik aufzurüsten.

PRODUKT: Die österreichische Lebensmittel-Industrie ist, im Vergleich, generell eher klein strukturiert – ist das ein Vor- oder Nachteil, wenn es um den Klimaschutz geht?
Gewessler: Nachhaltigkeit, Klimaschutz oder Kreislaufwirtschaft sind Themen, die unabhängig von der Betriebsgröße umgesetzt werden können. Natürlich sind gewisse Maßnahmen eher für größere Unternehmen geeignet, umgekehrt sind vielfach Kleinunternehmen wesentlich flexibler und anpassungsfähiger. Der Wandel funktioniert jedenfalls nur dann, wenn die Unternehmen, aber auch die Zivilgesellschaft, gemeinsam mit der Politik Verantwortung übernehmen und ihren Beitrag leisten. Zahlreiche österreichische Produktionsbetriebe setzen beispielsweise seit Jahren erfolgreich Maßnahmen gegen die Lebensmittelverschwendung, diese sollten viele Nachahmer finden und zukünftig zum Branchenstandard werden.

PRODUKT: Gibt es darüber hinaus ein Thema, das Ihnen in Bezug auf die heimische Lebensmittel-Industrie und Klimaschutz bzw. Nachhaltigkeit am Herzen liegt?
Gewessler: Generell gilt, dass die wirtschaftlichen Chancen, die mit einer Ausrichtung auf Kreislaufwirtschaft und Klimaschutz verbunden sind, in größerem Ausmaß erkannt und rasch genutzt werden sollten. Ich wünsche mir, dass wir auch in Hinblick auf die darin liegende Wettbewerbsfähigkeit in einen Dialog treten, um gemeinsam die vielen Möglichkeiten, die uns die Kreislaufwirtschaft bietet, zu nützen.

PRODUKT: Vielen Dank für das Gespräch!